Mordfall Marielle Franco: Behördern bleiben Aufklärung schuldig

Am 14. März 2018 wurde die Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro auf offener Straße erschossen. Ihre Ermordung zeigt, vor welchen Herausforderungen die Menschenrechtsarbeit in Brasilien steht.

Beitragsbild: Jeso Carneiro

Als Reaktion auf Berichte über die Ermordung der Menschenrechtsverteidigerin Marielle Franco und ihres Fahrers Anderson Gomes in der brasilianischen Presse sagte Jurema Werneck, Geschäftsführerin von Amnesty International Brasilien, gestern:

“Die jüngsten Enthüllungen in den brasilianischen Medien werfen alarmierende neue Fragen in einer Untersuchung auf, die sich seit fast 600 Tagen hinzieht. Die Behörden müssen unverzüglich, transparent und umfassend Auskunft geben und sicherstellen, dass die Ermittler Zugang zu allen verfügbaren Beweismitteln haben, wie beispielsweise zu allen CCTV-Materialien aus der Eigentumswohnung Vivendas da Barra.”

“Das Auslaufen von Informationen und unpräzisen Offenlegungen verschlimmert das Leiden derjenigen, die auf Antworten warten, nur noch mehr. Wir hoffen, dass dies keine Strategie ist, um die Aufklärung dieses Verbrechens weiter zu verzögern. Die Ermittler müssen bei der Feststellung der Fakten rigoros vorgehen. Die Familie von Marielle Franco, die brasilianische Gesellschaft und die Weltgemeinschaft fordern eine endgültige Antwort: Wer hat die Ermordung von Marielle angeordnet und warum?”


Die Menschenrechtsverteidigerin und Kommunalpolitikerin Marielle Franco setzte sich unermüdlich für die Menschenrechte von Minderheiten ein und kritisierte das Vorgehen der Militärpolizei in den Straßen von Rio de Janeiro. Am 14. März 2018 erschossen Unbekannte die Stadträtin und ihren Fahrer, Anderson Pedro Gomes, in ihrem Auto.

Marielle Franco wurde 2016 zur Stadträtin von Rio de Janeiro gewählt. Sie war eine schwarze bisexuelle Frau aus einer Favela und dafür bekannt, sich für die Menschenrechte von jungen Schwarzen, Frauen, Favela-Bewohner_innen sowie Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intergeschlechtlichen einzusetzen. Zuvor war sie von 2006 bis 2016 in der Menschenrechtskommission des Bundesstaates Rio de Janeiro tätig. Dort hatte sie häufig auf die außergerichtlichen Hinrichtungen und andere Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Sicherheitskräfte der einzelnen Bundesstaaten aufmerksam gemacht. Kurz vor ihrer Ermordung war Marielle Franco berufen worden, das Eingreifen der Bundesbehörden in die öffentliche Sicherheit in Rio de Janeiro zu beobachten.

Gut ein Jahr nach dem Mord nahmen die brasilianischen Behörden am 12. März 2019 zwei Tatverdächtige fest. Diejenigen, die das Verbrechen geplant haben, potentielle weitere Tatbeteiligte oder auch das Tatmotiv wurden jedoch noch nicht ermittelt.

Am 13. März 2019 trafen Vertreter_innen von Amnesty International sowie Angehörige von Marielle Franco den Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Wilson Witzel, sowie den Generalstaatsanwalt von Rio de Janeiro, Eduardo Gussem. Beide Behördenvertreter bekräftigten, dass die Ermittlungen in den Mordfällen Marielle Franco und Anderson Gomes so lange fortgeführt würden, bis alle Tatbeteiligten gefunden seien – auch die Auftraggeber_innen.

Die Festnahme der beiden Männer, die verdächtigt werden, Marielle Franco und Anderson Gomes erschossen zu haben, ist ein wichtiger Schritt. Sie müssen vor Gericht gestellt werden. Doch die Ermittlungen dürfen nicht eingestellt werden, bevor alle Tatbeteiligten bekannt sind – insbesondere diejenigen, die das Attentat in Auftrag gegeben haben.

Die Behörden, die den Tod von Marielle Franco untersuchen, haben bislang weder dementiert noch bestätigt, dass sie die mögliche Beteiligung der Militärpolizei, örtlicher Funktionsträger_innen, Milizen oder einer Gruppe von Auftragsmördern namens “Crime Office” untersuchen, von denen in den Medien berichtet wird.

Presseberichten zufolge war die Tatwaffe eine Heckler & Koch MP5-Maschinenpistole. Diese Waffe darf in Brasilien nur von Sicherheitspersonal, Militärangehörigen und bestimmten Strafjustizangehörigen benutzt werden. Mehrere Waffen dieses Modells, die 2011 im Inventar der zivilen Polizei von Rio de Janeiro registriert worden waren, verschwanden anschließend. Die Munition, die bei dem Verbrechen benutzt wurde, soll zu einem Bestand der Bundespolizei gehört haben, der vor wenigen Jahren ebenfalls verschwand.

Nach Angaben von Zeug_innen waren sowohl Marielle Francos Wagen als auch das Fahrzeug der Täter_innen in Bewegung, als die Schüsse abgegeben wurden. Die Präzision der Kopfschüsse, mit denen Marielle Franco demnach während der Fahrt getötet wurde, zeugen von einer Spezialausbildung. Die Überwachungskameras unmittelbar am Tatort waren zudem ein bis zwei Tage vor der Tat abgeschaltet worden. Auf dem Material anderer Überwachungskameras sind in der Tatnacht zwei Fahrzeuge zu sehen, die Marielle Franco folgen. Medien vor Ort berichteten, dass diese Fahrzeuge gefälschte Nummernschilder trugen.

Im Laufe der bisherigen Untersuchungen haben Forensikexpert_innen mehrere Vorwürfe wegen Fahrlässigkeit, Verfahrensunregelmäßigkeiten und Verstößen gegen rechtsstaatliche Verfahren erhoben. Sie beanstanden die fehlenden Röntgenaufnahmen bei den Autopsien von Marielle Franco und Anderson Gomes sowie die unsachgemäße Lagerung des Fahrzeugs, in dem die beiden getötet wurden. Kritisiert wird auch, dass die Augenzeug_innen der Tat nicht aufgefordert wurden, Aussagen zu machen.

Eine aktuelle Pressemitteilung auf portugiesischer Sprache zum Thema findet ihr hier.